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Einige Gedanken zur zwischenstaatlichen Entschädigung beim EGMR

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Was ist das Verhältnis zwischen einem regionalen Menschenrechtssystem, etwa dem der Europäischen Menschenrechtskonvention, und allgemeinem Völkerrecht? Diese Frage wird bereits seit geraumer Zeit strittig diskutiert. Auch das am Montag vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erlassene Urteil bringt keine eindeutige Antwort.

Am Montag verurteilte das Gericht die Türkei, insgesamt 90 Millionen Euro an die zypriotische Regierung zu zahlen, und zwar für immaterielle Schäden, die Griechisch-Zyprioten während der türkischen Besetzung Nordzyperns 1974 erlitten hatten. Das Urteil muss – darauf wurde hier schon hingewiesen – im Zusammenhang mit einem anderen Urteil des Gerichts aus dem Jahre 2001 gesehen werden. Dort hatte der EGMR mehrere Verstöße der Türkei gegen die in der Konvention verbrieften Rechte festgestellt. Die Frage nach einer gerechten Entschädigung wurde damals allerdings vertagt. Das Urteil vom Montag ist das erste in der Geschichte des EGMR, in dem in einem zwischenstaatlichen Verfahren eine gerechte Entschädigung zugesprochen wurde. Obwohl die Türkei bereits ankündigte, dem Urteil keine Folge zu leisten, ist vor allem die Begründung des Urteils zur Anwendbarkeit des Artikel 41 EMRK auf zwischenstaatliche Verfahren die genauere Analyse wert. Denn das Gericht nutzt traditionelle Auslegungsmethoden des Völkervertragsrechts, um das Verhältnis von allgemeinem Völkerrecht und der Menschenrechtskonvention zu begründen.

Artikel 41 EMRK: Ausdruck eines allgemeinen völkerrechtlichen Prinzips oder eigenständige Regel?

Helmut Aust hat bereits auf die scheinbar unvereinbaren Argumentationsstränge des Urteils hingewiesen: einerseits stützt sich das Gericht auf allgemeines Völkerrecht (nämlich auf den allgemeinen zwischenstaatlichen Reparationsgrundsatz und das Recht des diplomatischen Schutzes), um die Anwendbarkeit der Entschädigungsregel auf zwischenstaatliche Verfahren zu begründen, andererseits stellt das Gericht fest, dass dem Individuum die gerechte Entschädigung zukomme, und nicht etwa dem Staat (Rz. 47). Damit aber ziehe das Gericht seiner eigenen Argumentation, das Recht auf gerechte Entschädigung sei nur eine Ausgestaltung des zwischenstaatlichen Reparationsgrundsatzes, den Boden unter den Füßen weg. Das ist ein gewichtiger Einwand. Dennoch denke ich, dass eine mögliche Lesart des Urteils beide Punkte miteinander vereinen kann: dann nämlich, wenn man die Bezeichnung des Artikel 41 EMRK als lex specialis im Verhältnis zum allgemeinem Völkerrecht (para. 42) ernst nimmt. Dann könnte man die Bezugnahmen auf allgemeine völkerrechtliche Schadensersatzpflichten und das Recht des diplomatischen Schutzes als Interpretationshilfen verstehen, der Artikel 41 wäre aber nicht in ihnen begründet.

Der schwierige Charakter der lex-specialis-Regel

Während auch das Völkerrecht den lex specialis-Grundsatz allgemein anerkennt, ist sein Gehalt nicht immer klar. Der Bericht der Studiengruppe der Völkerrechtskommission zu Fragmentierung im Völkerrecht unterscheidet zwischen zwei Ausprägungen der lex specialis-Regel: Ein enges Verständnis will lex specialis nur anwenden, soweit zwei Bestimmungen einander widersprechende Handlungsanweisungen für eine bestimmte Situation enthalten. Dagegen umfasst ein weiteres Verständnis der lex specialis-Regel auch solche Fälle, in denen die spezielle Rechtsregel „vor dem Hintergrund des allgemeinen völkerrechtlichen Standards gelesen werden muss, typischerweise als Ausprägung“ (Rz. 56-57 des Berichts). Wenn wir ein solch weites Verständnis zugrunde legen, dann ist es unproblematisch, dass das allgemeine Völkerrecht den diplomatischen Schutz als Recht des Staates ansieht, und ihn nicht primär auf das Individuum bezieht. Denn der Ansatz des EGMR wäre dann eben einer, der sich ausschließlich auf das Gericht und den Anwendungsbereich der EMRK bezieht, und insofern als lex specialis gerade vom allgemeinen Völkerrecht abweicht.

Allgemeines Völkerrecht in der gerichtlichen Argumentation

Wenn das so ist, stellt sich aber die Frage, warum der EGMR überhaupt auf allgemeine völkerrechtliche Prinzipien Bezug nimmt. Hätte er dann nicht einfach die Konvention auslegen können? Ich meine, dass das Gericht eben dies tut – und zwar, indem es sich auf allgemeines Völkerrecht beruft.

Bevor einzelne Fragen zur Anwendbarkeit des Artikel 41 auf zwischenstaatliche Verfahren in den Blick genommen werden, stellt das Gericht klar:

“Despite its specific character as a human rights instrument, the Convention is an international treaty to be interpreted in accordance with the relevant norms and principles of public international law, and, in particular, in the light of the Vienna Convention on the Law of Treaties” (para. 23)

Dass die EMRK trotz ihres spezifischen Charakters dem Grunde nach ein völkerrechtlicher Vertrag ist, ist keine neue Erkenntnis. Das Gericht hat in zahlreichen Fällen betont, die EMRK könne nicht in einem Vakuum interpretiert werden, sondern müsse dabei allgemeines Völkerrecht  berücksichtigen (zum Beispiel in den Urteilen Al Jedda, Loizidou und Banković). Aber bedeutet das, dass allgemeines Völkerrecht auch materiellrechtlich auf die Bestimmungen der Konvention durchgreift? Wohl kaum. Die Bezugnahme auf allgemeines Völkerrecht ist in erster Linie Interpretationsmethode, nicht eigenständiger Zweck (eine ähnliche Unterscheidung findet sich hier, S. 622). Gemäß Artikel 31 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) sind vertragliche Bestimmungen nach ihrer gewöhnlichen Bedeutung auszulegen, unter Einbeziehung ihres Zusammenhangs, ihrer Anwendung und späteren Übereinkünften zwischen den Vertragsparteien, sowie – und das ist für mein Argument von Bedeutung – unter Berücksichtigung jedes zwischen den Vertragsparteien anwendbaren, einschlägigen Völkerrechtssatzes (Art. 31 (3) c) WVK, auch bekannt als „systemische Integration“). Das Gericht bedient sich aller dieser Auslegungsmethoden: neben der gewöhnlichen Bedeutung des Begriffs „der verletzten Partei“ (Rz. 42 des Urteils; dieser kann nach Art. 41 EMRK eine gerechte Entschädigung zukommen) zieht das Gericht seine eigene Rechtsprechung heran (nur um festzustellen, dass die Frage bislang nicht entschieden wurde, Rz. 39). Es wirft außerdem einen Blick auf die vorbereitenden Arbeiten zur EMRK, ein weiteres (wenn auch nur ergänzendes, vgl. Art. 32 WVK) Auslegungsmittel. Und das Gericht zieht eben auch allgemeine Völkerrechtssätze als Auslegungsmittel heran, insbesondere den allgemeinen Grundsatz, dass eine Vertragsverletzung durch einen Staat eine Schadensersatzpflichtigkeit eben dieses Staates auslöst. (Nur am Rande sei darauf verwiesen, dass der EGMR mit dem Verweis auf das IGH-Urteil im Gabčikovo Nagymaros Fall gerade einen solchen Fall wählt, in dem der IGH den lex specialis-Grundsatz besonders betonte, vgl. Rz. 132.) Das Gericht, so meine ich, verankert also den Artikel 41 EMRK nicht ausdrücklich im allgemeinen völkerrechtlichen Staatenverantwortlichkeits- und Schadensersatzrecht, sondern zieht dieses als Auslegungshilfe heran. Der Wortlaut des Urteils unterstützt diese Lesart: wo immer das allgemeine Völkerrecht bemüht wird, betont das Gericht zugleich auch immer den „spezifischen Charakter“ oder „die Eigenschaft der Konvention“. Auch die Norm des Artikel 31 (3) c) WVK wird ausdrücklich bemüht; ebenso wird betont, dass es sich bei Artikel 41 EMRK eben um lex specialis handelt. Ich meine, daraus lässt sich entnehmen, dass das Gericht in seiner Bezugnahme auf das allgemeine Völkerrecht dessen status quo klarstellen möchte – um sodann unter Anwendung der lex specialis-Regel wissentlich von diesem abzuweichen.

Liest man das Urteil als Anwendung des lex specialis-Grundsatzes, dann scheinen zwei Schlussfolgerungen möglich: Erstens sieht das Gericht sich selbst nicht als Hüterin eines komplett eigenständigen Systems, eines self-contained regime an (anders als das bei nationalen Gerichten, und wohl auch beim Europäischen Gerichtshof, regelmäßig der Fall ist). Sondern es versteht die EMRK als Teil des internationalen Rechtssystems. Zweitens wird das Gericht aber dennoch sein eigenes Vertragsrecht vorrangig anwenden, nämlich als lex specialis gegenüber dem allgemeinen Völkerrecht. Dieser Ansatz erlaubt dem Gericht, die Konvention im internationalen Rechtssystem zu verankern, ohne den Charakter der EMRK als menschenrechtlichen Vertrag, der zuförderst dem Individualschutz verpflichtet ist, zu kompromittieren. Ob und inwieweit all das auch im allgemeinen Völkerrecht vom klassischen staatenzentrierten Ansatz hin zu einem menschenzentrierten System führt, kann dadurch offen bleiben – jedenfalls für das Gericht.

 


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