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Channel: Hannah Birkenkötter – Verfassungsblog
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Welche Schulaufsicht durch den Staat? Ein Beitrag aus Straßburg zur Staatshaftung durch Unterlassen

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Ein Staat, der dem systematischen sexuellen Missbrauch von Kindern tatenlos zusieht, verletzt das Recht der Kinder, vor unmenschlicher Behandlung bewahrt zu werden – auch wenn ihr konkretes Einzelschicksal dem Staat zunächst gar nicht bekannt war. Dies hat heute der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der lang erwarteten Rechtssache O’Keeffe ./. Irland entschieden. Die Große Kammer verurteilte Irland mit elf gegen sechs Stimmen, der Klägerin insgesamt 115.000 Euro Schadensersatz und Schmerzensgeld zu zahlen.

Die Fakten, eine wohl leider allzu häufige Realität im Irland der 1970er Jahre, sind schnell erzählt: Die Beschwerdeführerin, Louise O’Keeffe, war in den frühen 70er Jahren durch einen Lehrer ihrer katholischen Grundschule sexuell missbraucht worden. Sie litt über Jahrzehnte an psychischen Problemen, die sie aber nicht mit dem Missbrauch in Verbindung brachte. Erst nachdem andere Opfer in den 90er Jahren den Lehrer verklagten und darüber prominent in der Presse berichtet wurde, stellte die Beschwerdeführerin eine Verbindung zwischen ihrer Krankheit und dem erlittenen Missbrauch her. Neben dem Lehrer verklagte die Beschwerdeführerin auch das irische Bildungsministerium, die irische Generalstaatsanwaltschaft und die Republik Irland und verlangte Schadensersatz, da der Staat sie nicht hinreichend vor der Vergewaltigung geschützt habe.

Der Staat finanzierte in Irland damals zwar das Grundschulwesen, die Grundschulen selbst betrieb aber fast ausschließlich die katholische Kirche, nicht der Staat. Deshalb blieben Frau O’Keefes Versuche, vor der irischen Justiz den Staat zu verklagen, erfolglos: Nicht dieser, sondern die Kirche sei verantwortlich für die Grundschulen, so der Supreme Court 2009. Der Staat könne nicht für etwas haftbar gemacht werden, wovon er gar nichts wisse.

Der EGMR sieht dies anders: Das Verbot der unmenschlichen Behandlung aus Artikel 3 der Konvention enthalte auch eine staatliche Pflicht, vor allem besonders schutzbedürftige Gruppen wie Kinder oder Minderheiten vor den Übergriffen Privater zu schützen. Das ist keine neue Erkenntnis, sondern gesicherte Rechtsprechung des EGMR (Rz. 144).

Allerdings wies der Fall eine Besonderheit auf: die Parteien waren sich einig, dass der Staat jedenfalls vor 1995 von dem konkreten Missbrauchsfall der Klägerin gar nichts wusste. Und somit drehte sich die Hauptfrage um eine abstrakte Tatsachenfrage: Konnten die irischen Schulaufsichtsbehörden 1973 wissen, oder hätten sie jedenfalls wissen müssen, dass Grundschüler_innen dem Risiko sexuellen Missbrauchs an kirchlichen Grundschulen ausgesetzt waren, so dass sie eine entsprechende Aufsicht hätten einrichten müssen (Rz. 152, 168)?

Die Große Kammer bejahte beide Teilfragen und entschied, dass aufgrund einer nicht unerheblichen Zahl von Strafverfahren bereits in den frühen 1970er Jahren der irische Staat hätte wissen müssen, dass ein Risiko sexuellen Missbrauchs grundsätzlich bestand. Auf dieser Grundlage befand das Gericht die Schulaufsicht als unzureichend (Rz. 168, 169).

Es ist diese Tatsachenebene, die eine Reihe von Richterinnen und Richtern in einem gemeinsamen abweichenden Votum kritisierten. Der EGMR hatte sich hier vor allem auf eine Reihe von Berichten und Zahlen gestützt. Dagegen wird in dem abweichenden Votum argumentiert, die Faktenlage der frühen 1970er Jahre sei keineswegs so eindeutig gewesen, wie sie sich aus heutiger Sicht darstelle.

Irland hatte vorgetragen, die Klage sei schon gar nicht zulässig: Frau O’Keefe hatte ihre Klage gegen den Staat nur insoweit bis zur letzten Instanz getrieben, als es um dessen Haftung für die Verbrechen des Lehrers ging. Den Klagegrund, der Staat habe seine Aufsichtspflichten über die katholischen Grundschulen versäumt, hatte sie fallen gelassen, nachdem sie in der ersten Instanz an Beweisproblemen gescheitert war. Daher, so Irland, habe sie den Rechtsweg nicht ausgeschöpft.

Auch das lehnte die Große Kammer ab: wenn verschiedene Rechtsmittel mit dem gleichen Ziel (in diesem Fall: Schadensersatz vom Staat) zur Verfügung stehen, steht des dem Einzelnen frei, sich für ein Rechtsmittel zu entscheiden. Die Beschwerdeführerin war nicht verpflichtet, sich in ihrer Klage vor dem EGMR auf die gleiche rechtliche Argumentation zu stützen wie vor den nationalen Gerichten (Rz. 110).

Dass die irische Justiz die Frage, ob der Staat insoweit für sein Unterlassen haftet, nicht letztinstanzlich prüfen konnte, ist freilich der Grund dafür, dass die Große Kammer sich intern über Tatsachenfragen streiten musste: Die nationalen Gerichte hatten sich überhaupt nicht substantiell mit der Faktenlage der frühen 1970er Jahre auseinandergesetzt, weil Frau O’Keefe diese Anspruchsgrundlage nicht weiterverfolgt hatte. So sehr die heutige Entscheidung im Ergebnis uneingeschränkt zu begrüßen ist, so sehr wirft sie doch die Frage auf, inwieweit der EGMR ein geeignetes Forum ist, um Tatsachenfeststellung zu betreiben.

Dieser Blogpost ist im Rahmen des Seminars “Einführung ins rechtswissenschaftliche Bloggen” an der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden.


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